Close-up: Zu Besuch bei Lovjoi

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Als wir den kleinen Bahnhof in Riedlingen verlassen und unsere Koffer in der spätsommerlichen Mittagssonne über die Hauptstraße ziehen, fragen wir uns kurz, ob schon Wochenende ist. Die kleinen Läden entlang der großen Fachwerkstraße sind geschlossen. Mittagspause. Das kleine Städtchen an der Donau scheint wie aus einer anderen Zeit entsprungen. Und genau hier am Rande der schwäbischen Alb treffen Tradition und Innovation aufeinander. Kurz vorm Ortskern liegt eine alte VW-Werkstatt, in der das eco-faire Label Lovjoi produziert. Das ist in der Fair Fashion-Szene einzigartig. Auf 250 m2 entstehen hier die Kollektionen eines der derzeit angesagtesten Fair Fashion-Brands. Mit ganz viel Liebe.

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Bei Lovjoi herrscht zum Zeitpunkt unseres Besuchs Ende August Hochbetrieb. Es ist Auslieferungszeit. In den Arbeitsräumen stehen Kleiderstangen dicht aneinander, an ihnen hängen die Einzelhandelsbestellungen für den Herbst und Winter. Die Nähmaschinen sind im Dauerbetrieb. Parallel bereitet das Team um Gründerin Verena Paul den neuen Markenauftritt und den Relaunch des Online-Shops vor (das Ergebnis könnt ihr euch hier anschauen). In 86 Läden findet man Lovjoi inzwischen, ca. 95% davon sind eco-faire Läden, der Rest konventionelle Stores. Neben Deutschland, Österreich und der Schweiz ist Lovjoi u.a. auch in Schweden, Estland, Belgien, Frankreich und den USA vertreten. Lovjoi wächst schnell. Vor etwas über einem Jahr waren Verena, Freddy und Elli zum ersten Mal auf der Ethical Fashion Show in Berlin. Dass Lovjoi nur ein Jahr später bereits neun Mitarbeiter haben wird, hätte Verena damals auch nicht vermutet. Denn anfangs gab es mitunter auch verhaltene Reaktionen von Seiten der Einkäufer: zu viele asymmetrische Schnitte, zu viel Schwarz, Weiß und Grau. Feedback, das Verena durchaus ins Grübeln brachte. Auch wenn die Kritik der Einzelhändler vereinzelt umgesetzt wurde, so vertraute Verena letztlich auf ihr Bauchgefühl. Inzwischen gehören die zunächst skeptisch beäugten Basics zu Lovjois Longsellern. Trendgespür und Vertrauen in sich und ihr Team ist etwas, was Lovjoi auszeichnet. Das neunköpfige Team arbeitet unermüdlich. Urlaub? Den hatte Verena zum letzten Mal vor der Labelgründung. Ihre Energie und Zeit steckt sie in Lovjoi, in ihre Version eines öko-fairen Labels.

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Bei Pizza und Pasta im Riedlinger „Stadtgespräch“ erzählt Verena uns, wie sie zur Mode gekommen ist, nämlich aus Interesse an Trends und Eigenbedarf. Als sie ihren Kleiderschrank auf nachhaltig, fair und vegan umstellte, gab sie viel Geld für Kleidung aus, die entweder durch Qualität oder Ästhetik enttäuschte. In Riedlingen unterstützte die grüne Stadträtin die Abschlusskollektionen der Modestudenten finanziell und machte sich so bereits einen Namen. Auch Freddy, Lovjois Chef-Designerin, hat Verena auf diesem Weg kennengelernt. Und wie so oft mit der Liebe, ist Lovjoi dann einfach passiert. Am Anfang haben Verena und Freddy im Keller der Werkstatt stundenlang selbst Stoffe zugeschnitten. Ein Arbeitsschritt, den Verena heute nicht mehr machen muss. Doch dadurch, dass sie überall selbst Hand angelegt hat, kann sie alle Arbeitsprozesse einschätzen und die Aufgaben des Teams nachvollziehen. Seitdem Freddy in Elternzeit ist, kümmert Verena sich auch um die Stoffbestellung, ein durchaus komplexes Unterfangen, insbesondere wenn man direkt mit Stofflieferanten arbeitet. Hinzu kommt, das Lovjoi nicht im Voraus produziert, sondern nur auf Bestellung, um Überproduktion entgegenzuwirken. Gleichzeitig bedeutet das eine vorausschauende Kalkulation des Stofflagers. Sobald eine Bestellung über den Online-Shop eingeht, dauert die Bearbeitung zwei bis drei Tage. An den Nähmaschinen sitzen Khaled und Mahmoud. Beide kommen aus Syrien, wo sie in einer Modefabrik mit 200 Mitarbeitern gearbeitet haben. Bei Lovjoi haben sie die Möglichkeit bekommen, fern der Heimat in ihren alten Beruf zurückzukehren. Diese Zusammenarbeit wird oft als Positivbeispiel für die gesellschaftliche Integration von Geflüchteten genannt. Und natürlich ist es das auch. Darüber hinaus ist es Verena aber wichtig, dass gesehen wird, dass sie letztlich mit Menschen zusammenarbeitet, die gute und erfahrene Näher sind und ein Know-How mitbringen, das in der Region nicht vorhanden ist.

Nach einer Führung durch das Lovjoi-Werkstatt-Labyrinth (auf dem Weg zum Stofflager im Keller geht es erstmal durch die angrenzende Postfiliale), durfte ich selbst Hand anlegen. Aus dem Katalog habe ich mir das T-Shirt Canoa aus Bio-Baumwolle ausgesucht. Das Stoffmuster wurde übrigens speziell für Lovjoi produziert. Das Oberteil – und das war für einen Laien wie mich das ausschlaggebende Kriterium – besteht aus nur 5 Schnittteilen. Für den Zuschnitt werden die Stoffbahnen auf einen 8 Meter langen Tisch ausgerollt und manuell zugeschnitten. Lovjoi-Mitarbeiterin Vroni erklärt mir geduldig, wie man das Oberteil am besten zuschneidet und zeigt mir, wie man eine Schere richtig in der Hand hält (life lesson! Mit 31 hab ich das nun auch drauf). Beim Zuschnitt bin ich doch etwas überrascht über die große Menge an anfallenden Schnittresten. Diese landen bei Lovjoi zum Glück nicht nur im Müll, sondern werden für entzückt gesammelt, einem Upcycling-Label für Unterwäsche. Louisa, die bei Lovjoi für PR und Marketing zuständig ist, und mein Freund helfen mir beim Zuschneiden und zusammen bringen wir es auf 30 Minuten – Vroni braucht für denselben Arbeitsschritt alleine übrigens durchschnittlich sieben Minuten. Und trotzdem freue ich mich über das, was wir geschaffen haben (und dass ich mein Textilunterrichtstrauma überwunden habe). Khaled näht die fünf Teile dann innerhalb weniger Minuten zusammen. Beim Finishen schneide ich mit Ellis Hilfe überstehende Fäden und Stoffe ab, damit das Ganze dann gebügelt werden kann. Tada! Jedes Mal, wenn ich erzähle, dass ich das Top selbst zugeschnitten habe, ernte ich ungläubige und beeindruckte Blicke zugleich. Plötzlich ist die Kleidung, die wir tragen, wieder persönlich und nahbar.

Zwischendurch zeigen Verena und Louisa uns noch das nebenliegende Gebäude, in das sie zum Jahresende einziehen werden. Hier ist nicht nur mehr Platz, sondern alles befindet sich auch auf einer Ebene, sodass die Arbeitswege kürzer sind (fun fact: Vroni trackt ihre Schritte und legt am Tag allein 20.000 Schritte durch die Laufwege zurück). Das Transparenz bei Lovjoi keine Worthülse ist, zeigt sich einmal mehr, als Verena mir vorrechnet, wie sich der Ladenpreis von meinem frisch genähten Top zusammensetzt. Außerdem darf ich mir noch die neuen Logo-Entwürfe und das Mood-Board für die nächste Kollektion anschauen, die im Dezember geschootet wird.

Zum Abschluss unseres Besuchs gehen wir mit Verena und Louisa durch Riedlingen spazieren. Vorher gibt es noch eine Matcha-Limo aus dem veganen Bio-Supermarkt gleich gegenüber vom Lovjoi-Headquarters, den Verena vor einigen Jahren gekauft hat. Denn dort, wo Verena etwas Gutes erkennt, investiert sie ihre Zeit und Lebensenergie. So sieht echte Liebe aus.

Hier noch ein paar Eindrücke aus dem Lovjoi-Headquarters:

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Vielen Dank an das Lovjoi-Team für eure Zeit, Offenheit und unglaublich inspirierende Arbeit.

In freundlicher Kooperation mit Lovjoi

7 Gedanken zu „Close-up: Zu Besuch bei Lovjoi“

  1. Ein superschöner Bericht, sowohl inhaltlich als auch vom Schreibstil her – das Lesen hat Spaß gemacht, wirklich! 🙂
    Ich finde es klasse, dass es immer mehr Menschen gibt, die wieder zurück wollen zum wie auch immer zu verortenden „Ursprung“ – den Satz, dass Kleidung wieder näher an uns herankommt, finde ich sehr schön. Ich hoffe, dass noch viele weitere Labels nachziehen werden (und habe Lovjoi gleich einmal per Instagram abonniert – das sieht ja auch alles zu schön aus bei denen! 😉 ).

    Liebe Grüße
    Jenni

    1. Liebe Jenni, danke für deinen Kommentar, der mich sehr glücklich macht, da ich viel Zeit und Energie in diesen Artikel gesteckt habe. Umso mehr freut es mich, dass du Spaß daran hast (und Lovjoi abonniert hast). Herzliche Grüße von Nina

  2. Was für lustiger, toller Zufall; vor knapp einem Monat erst hab ich bei Lovjoi ein Kleid gekauft (mein erster Kauf bei der Marke) und jetzt der interessante Artikel, da weiß ich gleich noch viel genauer Bescheid über das schöne Stück 🙂

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